Die Initiative „Aufklärung Organspende“ wurde 2014 von Studierenden in Berlin gegründet und hat mittlerweile über 20 Lokalgruppen an medizinischen Fakultäten in ganz Deutschland. Kernpunkt der Aufklärungsarbeit ist die sachgerechte, unabhängige und neutrale Vermittlung von Informationen über den Themenkomplex Organspende und Hirntod. Wir haben mit Arlinda Belegu, Jasmin Schulz (per Video zugeschaltet), David Brasse und Nele Scholz von der Lokalgruppe Bochum gesprochen. Getroffen haben wir uns in der Ruhr-Universität Bochum in einem Skills Lab – einem Raum, in dem praktische Fähigkeiten vermittelt werden. Also saßen wir zwischen Ultraschall-Geräten, Skeletten und Körpermodellen mit herausnehmbaren Organen. Corona-konform mit geöffneten Fenstern und viel Abstand zwischen uns.
Lebensritter: Herr Brasse, als Medizinstudent im 9. Semester haben Sie doch sicherlich einiges zu tun – warum haben Sie noch die Gruppe „Aufklärung Organspende Bochum“ gegründet?
David Brasse: Wir Medizinstudierende sind doch viel tiefer in der Materie als andere und können Fragen souveräner beantworten. Ich habe das bundesweite Projekt „Aufklärung Organspende“ erstmals in Hannover kennengelernt und 2019 die Gruppe hier in Bochum gegründet. Mich interessierte das Thema, weil mein Onkel mehrere Gewebespenden bekommen hat und mein Bruder eine Stammzellenspende. Neben dem Studium arbeite ich noch bei der DSO [Anmerkung Lebensritter: Deutsche Stiftung Organtransplantation] und habe dadurch noch mal einen anderen Blickwinkel.
„Wir Medizinstudierende sind doch viel tiefer in der Materie als andere und können Fragen souveräner beantworten.“
Lebensritter: Frau Belegu, wie sind Sie zur Gruppe gekommen?
Arlinda Belegu: Ich bin 2020 beigetreten, in meinem 1. Semester der Medizin. Ich finde, Aufklärungsarbeit ist eine ganz wichtige Sache, so wie auch Medizin etwas Gutes und Wichtiges ist. Meine Mutter hatte Krebs, deshalb habe ich mit dem Medizinstudium begonnen. Ich arbeite nebenbei im Rettungsdienst und fahre im Rettungswagen mit – da habe ich auch schon Menschen getroffen, die auf ein Organ warteten oder Probleme nach der Transplantation hatten. Aber erst als ich den Aushang von David las, über den er neue Mitglieder für die AO Bochum suchte, bin ich mit dem Thema Organspende direkt in Berührung gekommen.
Lebensritter: Frau Scholz, was war Ihre Motivation, der Gruppe beizutreten?
Nele Scholz: „Aufklärung Organspende“ hat mich sofort angesprochen, weil ich finde, dass dies ein sehr wichtiges Thema ist. Es macht mich wütend, dass es so wenig Informationen in der Gesellschaft gibt. Organe und Spender gehen verloren, weil viele einfach nicht Bescheid wissen.
Jasmin Schulz: Das stimmt. Und das Schlimme ist ja, dass die Bereitschaft zur Organspende grundsätzlich da ist, aber die Menschen beschäftigen sich einfach nicht mit dem Thema.
„Organe und Spender gehen verloren, weil viele einfach nicht Bescheid wissen.“
Lebensritter: Wie sieht denn Ihre Arbeit in der „Aufklärung Organspende Bochum“ konkret aus?
Arlinda Belegu: Wir treffen uns alle zwei Wochen. Es gibt Vorträge – live und über Video –, wir bilden uns weiter, wir planen Aktionen.
Jasmin Schulz: Leider hat Corona bei vielem einen Strich durch die Rechnung gemacht. Wir wollen ja auch Schulen besuchen und dort aufklären, aber das geht jetzt natürlich nicht.
Nele Scholz: Man kann es aber auch positiv sehen – an unserem 2. Online-Vortrag haben 80 Leute teilgenommen. Diese Zahl hätten wir mit einer Live-Veranstaltung wahrscheinlich nicht erreicht. Auch andere Aktionen lassen sich trotz Corona realisieren. Wir haben zum Beispiel am Kemnader See in Bochum eine Wäscheleine mit Info-Flyern und Organspendeausweisen aufgehängt und sind so mit den Leuten ins Gespräch gekommen, im Freien und mit genügend Abstand. Ich wohne in einem Mehrparteienhaus und habe am Tag der Organspende ein Info-Plakat mit Organspendeausweisen in den Flur gehängt. Wir haben auch Flyer in Corona-Test-Zentren ausgelegt.
David Brasse: Wir können die Leute niederschwellig erreichen. Durch die Wäscheleine zum Beispiel kommt man ins Gespräch und kann einiges richtigstellen – viele glauben ja beispielsweise, sie seien zu alt, um als Spender in Frage zu kommen. Das ist falsch, es gibt keine Altersbegrenzung für Spender. Als Studierende, die noch nicht in einer Klinik arbeiten, sind wir neutraler.
Arlinda Belegu: In der Regel haben die Leute ja auch keine Berührungspunkte, wenn nicht gerade ein Familienmitglied oder jemand aus dem Freundeskreis betroffen ist. Sie denken einfach nicht über Organspende nach. Deshalb ist es so wichtig, zu informieren. Viele haben auch Vorurteile wegen der Skandale – durch unsere Aufklärungsarbeit können wir zeigen, dass der Ablauf einer Organspende bis ins kleinste Detail geregelt ist.
„Wir können die Leute niederschwellig erreichen. Durch die Wäscheleine zum Beispiel kommt man ins Gespräch und kann einiges richtigstellen.“
Lebensritter: Ist jemand von Ihnen schon mal direkt mit der Organspende in Berührung gekommen?
David Brasse: Ich durfte eine Herzspende im Herztransplantationszentrum Bad Oeynhausen miterleben. Das war schon etwas Außergewöhnliches. Und auf der anderen Seite auch unspektakulär, wenn man sieht, wie das Herz da so einfach in der Box liegt. Im Operationssaal herrschte eine ganz besondere Stimmung. Es waren auch viele Zuschauer aus den anderen Abteilungen da, weil eine Herztransplantation keine alltägliche Operation ist.
Lebensritter: Gibt es im Medizinstudium eigentlich ein Fach „Organtransplantation“?
Nele Scholz: Nein, aber wir arbeiten dran, dass wir hier in Bochum an der Uni demnächst ein Wahlfach „Organspende“ anbieten können. Es gibt zwar Palliativmedizin, das ist aber ein sogenanntes Sternchen-Thema, also freiwillig und ohne Benotung. Wir möchten erreichen, dass die Leute sich „Organspende“ als Wahlfach aufs Zeugnis schreiben lassen können. Gießen und München bieten das schon an, vielleicht klappt es bei uns im nächsten Semester, das Konzept steht schon.
„Wir arbeiten dran, dass wir hier in Bochum an der Uni demnächst ein Wahlfach „Organspende“ anbieten können.“
Lebensritter: Was glauben Sie, warum sich Menschen nicht oder nur unzureichend mit dem Thema Organspende auseinandersetzen?
Arlinda Belegu: Die Menschen setzen sich nicht gerne mit dem Tod auseinander. Das eigene Ende ist in unserer Gesellschaft ein Tabuthema.
David Brasse: Ja, und es ist auch ein sehr intimes Thema. Für viele ist es eine große Last, dass sie sich selbst entscheiden müssen. Also tun sie es nicht. Und in der Praxis ist es dann so, dass die Angehörigen vor die Entscheidung gestellt werden. Es gibt immer noch Bedenken und Vorurteile – damit möchten wir aufräumen.
Nele Scholz: Das Problem ist, dass diese Entscheidung nicht sofort getroffen werden muss. Also wird sie vertagt. Es ist vergleichbar mit der Patientenverfügung – jüngere Menschen kümmern sich nicht drum, weil das Thema noch so weit weg ist. Viele ältere Menschen haben eine, weil der Fall der Fälle bald eintreten kann.
„Die Menschen setzen sich nicht gerne mit dem Tod auseinander. Das eigene Ende ist in unserer Gesellschaft ein Tabuthema.“
Lebensritter: Wie reagieren Sie, wenn Menschen sich gegen Organspende aussprechen?
Arlinda Belegu: Das muss man akzeptieren. Trotz allem sollte aber auch diese Entscheidung schriftlich festgehalten werden, um die Angehörigen zu entlasten.
David Brasse: Wir sind neutral, wir wollen aufklären und nicht unsere persönliche Meinung verkünden.
Jasmin Schulz: Überreden macht überhaupt keinen Sinn. Wir können nur versuchen, möglichst viele Fakten auf den Tisch zu bringen.
Nele Scholz: Man muss aber festhalten, dass die Grundtendenz in der Bevölkerung positiv ist – besonders, wenn Mythen aus dem Weg geräumt werden. Und es macht einen großen Unterschied, wenn man Geschichten von Betroffenen wie Marius persönlich hört, dann ist das Thema nicht mehr so abstrakt! [Anmerkung Lebensritter: Marius Schaefer hat als erster Mensch in Deutschland eine Lebendlungenspende erhalten, wir haben mit ihm gesprochen.]
„Wir müssen das Thema aus der Tabu-Ecke herausholen, mit anderen in Kontakt kommen und darüber sprechen.“
Lebensritter: Wie sieht es mit Ihren Kommilitonen aus? Gibt es Zuspruch?
Nele Scholz: Es gibt leider mehr Ideen als Mitglieder. Corona erschwert es auch hier, weil der Uni-Betrieb ja nur eingeschränkt läuft. Wir haben Ersti-Tüten mit Gadgets wie Stickern und Info-Flyern verteilt – auch an Nicht-Mediziner. Wir brauchen Leute aus allen möglichen Fachrichtungen. Lehramtsstudierende zum Beispiel können noch mal ganz andere, didaktische Aspekte einbringen.
David Brasse: Unsere Gruppe hat Nachwuchssorgen. Und hinzu kommt, dass die Leute nach ihrem Studium, wenn sie erstmal fest arbeiten, noch weniger Zeit finden, sich bei uns zu engagieren.
„Die Bereitschaft zur Organspende ist grundsätzlich da.“
Lebensritter: Was liegt Ihnen besonders am Herzen?
David Brasse: Mir ist es wichtig, dass die Menschen sich entscheiden. Und dass wir mehr in den Dialog mit anderen Studierenden treten können und so möglichst viele Leute erreichen, die sich bei uns engagieren.
Jasmin Schulz: Das Thema Organspende muss in der Gesellschaft präsenter werden. Es gibt so viele Patienten auf der Warteliste … Durch unsere Aufklärungsarbeit können wir einen Beitrag leisten.
Nele Scholz: Ich wünsche mir, dass sich mehr Menschen trauen, sich mit der Organspende zu beschäftigen, dass sie einfach mal in sich gehen. Man kann so Tolles und Großartiges bewirken.
Arlinda Belegu: Wir müssen das Thema aus der Tabu-Ecke herausholen, mit anderen in Kontakt kommen und darüber sprechen – ob am Stammtisch oder auf der Party.
Weitere Informationen zur Initiative Aufklärung Organspende und zur Lokalgruppe Bochum gibt’s auf: Aufklärung Organspende Bochum
„Das Thema Organspende muss in der Gesellschaft präsenter werden. Durch unsere Aufklärungsarbeit können wir einen Beitrag leisten.“
Auch im Videointerview äußerten sich die Mitglieder der „Aufklärung Organspende Bochum“:
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