Menschen

Der Weg zurück zu mir

 

Christina Hülsmann bekam 2011 eine neue Leber. Zusammen mit ihrem Mann Jörg hat sie die Zeit vor und nach der Transplantation gut überstanden. Es war nicht immer einfach, Höhen und Tiefen gab es viele. Nicht nur für sie selbst, sondern auch für ihren Mann.

Lebensritter: „Herr Hülsmann, wie haben Sie die Zeit vor der lebensrettenden OP ihrer Frau erlebt?“

 

Jörg Hülsmann: „Als Angehöriger ist man in einer schwierigen Situation, weil man ja eigentlich nichts tun kann. Man ist hilflos, sitzt quasi nur auf dem Beifahrersitz. Meine Sorgen wollte ich nicht bei meiner Frau abladen, denn sie hatte ja schon genug um die Ohren. Ich habe dann viel meinen Freunden erzählt, aber das war nicht immer gut. Ich glaube, sie waren zum Teil einfach überfordert, viele haben sich auch abgewandt. Manchmal weiß man auch gar nicht, wie man sich richtig verhalten soll. Als wir beispielsweise zur Transplantation ins Krankenhaus gefahren sind, mussten wir noch zwölf Stunden auf die OP warten. Meine Frau hat in dieser Zeit nichts gegessen – ich auch nicht. Es war total irrational, ich dachte, wenn meine Frau als Patientin nichts isst, darf ich als Angehöriger auch nichts essen. Bis dann eine Schwester gesagt hat: Herr Hülsmann, sie dürfen sich ruhig ein Brötchen nehmen … Diese Hilflosigkeit kenne ich aus meinen Gesprächen mit anderen Angehörigen auch, da kommen dann Fragen wie: ‚Darf ich am Bett meiner Frau weinen?‘, „Darf ich auch mal nicht ins Krankenhaus gehen, einfach mal wegbleiben?“.

Lebensritter: „Und nach der OP?“

 

Jörg Hülsmann: „Das war kurios – meiner Frau ging es besser und mir schlechter. Ich weiß, das klingt verrückt. Christina war aus dem Gröbsten raus, eigentlich lief doch alles wunderbar. Ich aber fiel in ein tiefes Loch. Und dann ging’s mit Migräne los. Und mit Schlafstörungen – mein Körper sendete Alarmsignale. 2012 bin ich dann zu der Selbsthilfegruppe von Lebertransplantierte Deutschland e. V. gegangen. Meine Frau hat sich dort schon seit 2010 engagiert und ist auch heute noch Ansprechpartnerin für die Kontaktgruppe Herford/Bielefeld/Minden-Lübbecke. In der Selbsthilfe versuchen wir, Wege aufzuzeigen, mit der Situation umzugehen. Man selbst hat ja einen Tunnelblick und sieht mögliche Alternativen gar nicht. Trotz der Hilfe muss natürlich jeder seinen Weg selbst gehen, das ist ja der Kern der Selbsthilfe. Mein Weg, das Ganze zu verarbeiten, war eine Pilgerreise.“

Lebensritter: „Der Jakobsweg nach Santiago de Compostela?“

 

Jörg Hülsmann: „Nein, ich bin hier in Deutschland geblieben, weil ich die Reise nicht nur für mich gemacht habe. Ich wollte auch auf das Thema Organspende aufmerksam machen. Wie wichtig es zum Beispiel ist, einen Organspende-Ausweis zu haben – auch wenn man ‚Nein‘ ankreuzt. Das ist eine wichtige Entscheidung, nicht zuletzt für die Angehörigen, die dadurch Bescheid wissen, wenn es mal so weit kommen sollte. Im August 2015 bin ich in Osnabrück gestartet und bis nach Wuppertal gelaufen. Ich wollte wissen, was mit mir in der Zeit vor und nach der OP meiner Frau eigentlich passiert ist, wollte mit dem Alten abschließen und etwas Neues anfangen. Gewandert bin ich schon immer gerne, ich engagiere mich schon lange hier bei uns in der Gemeinde – da war eine Pilgerreise für mich naheliegend.“

Lebensritter: „Sie haben der Reise den Titel „Pilgern für’s Leben – für Organspende“ gegeben. Wie war es unterwegs?“

 

Jörg Hülsmann: „Ich hatte die Gewissheit, dass mir nichts passieren kann. Auf dem Pilgerweg gibt man viel von sich selbst preis, man erfährt aber auch viel von anderen. Pilgern ist spirituell, ich habe viel mit Pastoren aus den Gemeinden am Weg gesprochen, bei denen man sich ja auch den Stempel für den Pilger-Pass abholt. Mit der Jakobsmuschel am Rucksack wurde ich natürlich sofort als Pilger erkannt und von vielen Menschen angesprochen, es fand ein reger Austausch statt. Und eines habe ich gelernt – so engstirnig, wie man immer denkt, sind die Deutschen gar nicht! Am Pilgerweg gab es viele Begegnungen, an die ich auch heute noch gerne zurückdenke: der Vater, der seinem Sohn eine Niere spendete, die 91-jährige Ines Berger mit dem Mini-Hotel mit nur drei Zimmern, die mich pitschnass vor ihrer Tür aufgelesen hat, der Gemeindepfarrer im Jaguar S-Type … Und die Zeit wirkt nach. Die Ruhe, die ich unterwegs verspürt habe, kann ich mir in stressigen Situationen zurückholen – durch die Musik, die ich auf dem Pilgerweg immer gehört habe. Einfach Kopfhörer auf und schon werde ich ruhiger.“

Lebensritter: „Können Sie ein Resümee ziehen?“

 

Jörg Hülsmann: „Die Seele geht so schnell, wie man selber geht. Die Pilgerschaft war mein persönlicher Abschluss mit dem Erlebten. Sie war aber auch ein Neubeginn – ich setze mich jetzt verstärkt für die Belange der Angehörigen von lebertransplantierten Patienten und das Thema Organspende ein. Christina und ich sind ehrenamtlich bei Lebertransplantierte Deutschland e. V. tätig. Ich habe festgestellt, dass die Krankheit meiner Frau und meine Pilgerreise viele Parallelen aufweisen: Die Diagnose, die so viele Fragen und Ängste aufgeworfen hat – der Start meiner Wanderung, ich habe mich verlaufen und wusste nicht, was ich alles erleben werde. Die Zeit nach der Diagnose, in der man lernt, damit zu leben, und mit den Ärzten spricht – ich gewöhnte mich ans Laufen und habe viele Gespräche am Wegesrand geführt. Die OP, die alles auf den Kopf stellte – am dritten Tag meiner Reise ging gar nichts mehr: Füße kaputt, Magen verstimmt. Die Genesung – auch ich kam mit der Unterstützung lieber Menschen wieder auf die Beine. Dankbarkeit – meine Frau hat eine Splitleber bekommen, ein Kind den anderen Teil. Wer war der Mensch, dem wir das Leben meiner Frau verdanken? Das werden wir nie erfahren. Aber Dankbarkeit können wir zeigen. Ich habe im Krankenhaus einen Stein geschenkt bekommen, auf dem das Wort ‚Danke‘ geschrieben steht. Diesen Stein habe ich mitgenommen, habe ihn 200 Kilometer durch NRW getragen und einen Platz für ihn gesucht. In Schwelm habe ich ihn gefunden, in der Christuskirche. Dort liegt er jetzt, als Zeichen unserer Dankbarkeit.“

Lebensritter: „Dankbarkeit für das Spenderorgan?“

 

Jörg Hülsmann: „Nicht nur. Dank auch an die Ärzte und Schwestern. An die, die sich ehrenamtlich in der Selbsthilfe engagieren. Sie alle machen eine so wichtige Arbeit, das kann man gar nicht hoch genug schätzen. Transplantation ist Teamwork, alle müssen zusammenarbeiten, sonst geht es nicht.“

 

Lebensritter: „Welchen Rat können Sie anderen Angehörigen geben?“

 

Jörg Hülsmann: „Geht mit der Krankheit zur Selbsthilfe, lasst sie aus der Freizeit raus, wenn ihr zum Beispiel Sport treibt oder euch mit Freunden trefft. Konzentriert euch auf diese Momente und sperrt die Krankheit eures Angehörigen für diese Stunden aus. Jeder braucht mal eine Auszeit.“

Lebensritter: „Wie sieht Ihr Leben jetzt aus?“

 

Jörg Hülsmann: „Bewusster! Wir genießen beide den Augenblick und sehen vieles gelassener. Mit unserem Wohnmobil fahren wir spontan übers Wochenende weg, wir warten nicht mehr auf den richtigen Moment, sondern machen einfach. Das Leben ist intensiver geworden. Und wir sind unendlich dankbar für die Zeit, die uns geschenkt wurde.“

 

Über ihre persönliche Erfahrungen sprechen Frau und Herrn Hülsmann auch in folgenden Videos:

Der Weg zurück zu mir – Jörg Hülsmann im Videointerview

 

Der Weg zurück zu mir – Christina Hülsmann im Videointerview

 

Sind Sie auch ein Lebensritter und haben eine Geschichte zum Thema Organspende zu erzählen?

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