Pia Stegt wohnt in Bösensell, einem Dorf in der Gemeinde Senden im Kreis Coesfeld. Im Alter von 25 Jahren hat sie eine neue Leber bekommen. Wie es dazu kam und was sie alles erlebt hat, erzählt sie uns im Interview, das wir in Corona-Zeiten natürlich nicht vor Ort, sondern online geführt haben. Wir haben Pia Stegt schon als Mitglied der Studenteninitiative OrganSpende (SOS Münster) kennengelernt, heute wollten wir aber mehr über ihre ganz persönliche Geschichte erfahren.
Lebensritter: Kommen wir direkt zum Thema – hat eigentlich irgendetwas bei Ihnen darauf hingedeutet, dass es zu einem Leberversagen kommen könnte?
Pia Stegt: Nein, das Ganze hat mich sehr unvorbereitet getroffen. Es gab keine Vorerkrankungen, keine Anzeichen, dass sich eine chronische Krankheit abzeichnen könnte, gar nichts. Im Nachhinein und per Ausschlussverfahren haben die Ärzte gesagt, das Leberversagen könnte durch Ibuprofen ausgelöst worden sein. Weil ich unter chronischer Migräne leide, habe ich das Schmerzmittel genommen. Nicht in hoher Dosierung, jedoch recht häufig. Aber auch nicht unmittelbar, bevor die Leber versagt hat. Deshalb ist die Ursache recht fraglich, aber Ibuprofen ist das Einzige, was man im Nachhinein als Ursache ausmachen konnte.
Lebensritter: Können Sie erzählen, was passiert ist?
Pia Stegt: Ich war im Studium, als meine Leber versagt hat. Das war Ende 2014 in Frankreich, da war ich 24 Jahre alt und habe ein Auslandssemester in Poitiers absolviert. Mitte Dezember ging es los, zunächst nur mit Unwohlsein. Dann kamen Verdauungsbeschwerden hinzu und ich wurde leicht gelb. Den Gedanken an etwas Ernsthaftes hatte ich nicht. Ich bin aber trotzdem zum Arzt, weil ich am 20. Dezember nach Hause fliegen wollte und doch ein bisschen Sorge hatte, wegen einer Krankheit über Weihnachten in Frankreich festzuhängen. Der Arzt hat Blutuntersuchungen durchgeführt und festgestellt, dass die Leberwerte sehr erhöht waren. Ich bin dann ins Krankenhaus gekommen. Ich wollte aber so schnell wie möglich nach Hause, und weil in so kurzer Zeit auch nichts gemacht werden konnte, bin ich entlassen worden – mit der eindringlichen Bitte, in Deutschland möglichst schnell bei einem Arzt vorstellig zu werden.
Lebensritter: Wie ging es in Deutschland weiter?
Pia Stegt: Ich bin natürlich sofort zum Arzt. Nicht nur wegen der Mahnung der französischen Ärzte, sondern auch weil ich immer gelber wurde. Also wirklich deutlich gelb, das konnte man schon gut sehen. Beim Arzt gab es wieder eine Blutuntersuchung. Die Werte waren immer noch schlecht. Weil die Feiertage anstanden, sagte der Arzt, dass ich, wenn sich in irgendeiner Art und Weise etwas verschlechtern sollte, direkt ins Krankenhaus gehen sollte. Und dann kamen tatsächlich Kreislaufbeschwerden und Übelkeit dazu. Ich bin dann in die Uniklinik nach Münster gefahren, die ist ja hier in der Nähe. Die Ärzte meinten, dass sie sich jetzt erstmal alles genau anschauen müssten – aber nach Hause könnte ich nicht! Dann wurden natürlich viele Tests gemacht, es hätte ja auch eine Hepatitis sein können. Nach der Leberbiopsie war aber klar: akutes Leberversagen, sehr hohe entzündliche Qualität. Einen Auslöser hatte man aber nicht gefunden. Wäre zum Beispiel eine Pilzvergiftung die Ursache gewesen, hätte man mit Medikamenten gegensteuern können. Aber wenn man nichts findet, kann man auch nichts machen! Und so war relativ schnell klar, dass es bei mir auf eine Transplantation hinauslaufen würde.
Lebensritter: Mussten Sie lange auf die Transplantation warten?
Pia Stegt: Nach einer Woche wurde ich bei Eurotransplant gelistet, weil meine Werte so unterirdisch schlecht waren. Dann ist eine hepatische Enzephalopathie eingetreten, also eine Störung der Gehirnfunktion, die sich als Folge des Leberversagens entwickelt. Die Giftstoffe, die die Leber normalerweise filtert, können durch das Versagen nicht mehr gefiltert werden und setzen sich im Gehirn ab – man wird durcheinander im Kopf, kann bestimmte Funktionen nicht mehr steuern. Bei mir waren es zum Beispiel Wortfindungsstörungen und Erinnerungslücken. Wenn so etwas auftritt, heißt es: sofort Intensivstation und HU-Listung (High Urgency). In so einer Situation ist es natürlich besonders schwierig, sich mit dem Thema Organspende auseinanderzusetzen – ich war ja geistig gar nicht mehr klar. Deshalb werden die formalen Dinge auch schon relativ früh geregelt, damit einem hinterher die Zeit nicht davonläuft.
Lebensritter: Wann wurde die Transplantation vorgenommen?
Pia Stegt: Meine neue Leber habe ich am 7. Januar 2015 bekommen. Ich lag also Weihnachten, Silvester und an meinem Geburtstag am 1. Januar im Krankenhaus. Weihnachten habe ich in einem Einzelzimmer im Krankenhaus verbracht. Ich hatte viel Besuch, alle haben sich um mich gekümmert, mein Zimmer weihnachtlich dekoriert und es gab jede Menge Geschenke. An meinem Geburtstag hatte ich die Enzephalopathie und lag auf der Intensivstation. Ab da wird meine Erinnerung bruchstückhaft. Die Operation selbst hat eigentlich ganz gut geklappt. Allerdings war das neue Organ ein bisschen zu groß für mich, es stammte von einem Mann. Ich bin ja nicht die Größte, deshalb wurde es ein bisschen eng und die neue Leber wurde nicht gut durchblutet. Ich musste dann noch mal operiert werden, und dabei hat man ein Netz um die Leber gelegt. Das hat dann gut geklappt. Drei Wochen nach der OP durfte ich nach Hause. Leider kam es zu einer Abstoßungsreaktion, die hat man aber mit Cortison wieder in den Griff bekommen. Anschließend ging’s in die Reha – hätte ich mir auch nie vorgestellt, dass ich mit Mitte 20 einmal in eine Reha-Einrichtung komme!
Lebensritter: Welche Gedanken gehen einem durch den Kopf, wenn man ein neues Organ bekommt?
Pia Stegt: Ich habe gar nicht so viel über die Organspende an sich nachgedacht, da hatte ich keine Berührungsängste. Ich musste aber erstmal für mich realisieren, dass das alles wirklich passiert ist. Ich hätte diese Erkrankung nicht überlebt, wenn es keine Organspende geben würde und bei mir keine Transplantation stattgefunden hätte. Ich musste wieder Vertrauen in meinen eigenen Körper aufbauen und musste akzeptieren, dass ich jetzt eine chronische Erkrankung habe und bis an mein Lebensende gut auf mich aufpassen muss. Ich musste lernen, mit der neuen Situation zurechtzukommen.
„Meine neue Leber habe ich am 7. Januar 2015 bekommen. Ich lag also Weihnachten, Silvester und an meinem Geburtstag am 1. Januar im Krankenhaus.“
Lebensritter: Was war besonders schwierig?
Pia Stegt: Ich habe mich aus dem Leben gerissen gefühlt. Als die Leber versagte, stand ich ja mitten im Leben – Studium, Ausland, das erste Mal von zu Hause weg. Dann das Gefühl der Ohnmacht auf der Intensivstation – man kann nichts alleine machen, überall hängen Kabel. Und von da aus muss man den Weg zurückfinden in den Alltag – in einen Alltag, der einen auch nicht zu sehr belasten darf. Das ist schon eine Herausforderung!
Lebensritter: Wie sah der Alltag aus? Zurück zum Studium?
Pia Stegt: Ja, ich habe mit dem Studium wieder angefangen. Aber es hat sich gezeigt, dass der Schulbetrieb nichts für mich ist. Durch die Immunsuppressiva, die mein körpereigenes Immunsystem unterdrücken, damit das neue Organ nicht abgestoßen wird, besteht eine erhöhte Ansteckungsgefahr. Ich bin auch nicht mehr so belastbar. Ich habe dann eine Ausbildung beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe zur Verwaltungsfachwirtin absolviert. Dort kümmere ich mich um Eingliederungshilfen für Menschen mit Behinderung. Hier kann ich mir die Arbeit einteilen, es gibt flexible Arbeitszeiten und keinen Kundenkontakt. Wenn’s nicht mehr geht, kann ich auch mal 30 Minuten Pause machen – das geht im Schulunterricht natürlich nicht.
„Ich habe mich aus dem Leben gerissen gefühlt.“
Lebensritter: Wie kam es zu Ihrem Engagement bei der Studenteninitiative OrganSpende Münster? [Anmerkung Lebensritter: Die SOS Münster heißt mittlerweile Aufklärung Organspende Münster.]
Pia Stegt: In den ersten Monaten nach der Transplantation entwickelte sich bei mir der Wunsch, anderen zu helfen und die Menschen aufzuklären. Ich habe mich mit dem Thema vorher ja auch nicht beschäftigt und wie man an mir sieht, kann es jeden ganz unvermittelt treffen. Ich finde es sehr wichtig, sich damit auseinanderzusetzen und für sich zu überlegen: Was möchte ich? Würde ich ein Organ nehmen? Würde ich auch eins spenden? Man muss die Leute sensibilisieren. Das Thema Organspende geht an einem vorbei, wenn man sich nicht aktiv damit auseinandersetzt – das darf nicht sein! Ich habe in der Transplantations-Ambulanz an der Uniklinik nachgefragt, ob es eine Einrichtung oder Initiative gibt, in der ich meinen Beitrag zur Aufklärung leisten kann. Und so bin ich auf die SOS Münster gestoßen, die Studenteninitiative Organspende. Das ist eine Gruppe von (Medizin-)Studierenden, die sich das Ziel gesetzt haben, junge Menschen über Organspende und Organtransplantation aufzuklären. Durch Schulbesuche wollen sie ins Gespräch kommen, mit Vorurteilen aufräumen und die Themen gemeinsam aus verschiedenen Blickwinkeln diskutieren. So soll eine breite Informationsbasis geschaffen werden, auf der jeder persönlich eine Entscheidung für oder gegen eine Organspende treffen kann.
Lebensritter: Sind Sie noch aktiv bei der SOS Münster?
Pia Stegt: Seit anderthalb Jahren bin ich nicht mehr regelmäßig dabei, das lässt sich mit meinem Job nicht vereinbaren. Wenn sie mich aber dringend brauchen, bin ich sofort zur Stelle. Es hat mir immer viel Freude bereitet, gerade wenn wir in Schulen waren und mit den Kindern über Organspende gesprochen haben. Die sind so unbefangen und gehen ganz offen mit dem Thema um. Ein Kind fragte mich, ob ich mich jetzt männlicher fühle, wo ich doch eine Leber von einem Mann bekommen habe! Kinder sind da sehr ehrlich, je jünger, desto direkter kommunizieren sie. Bei Erwachsenen ist die Organspende ja häufig ein Tabuthema, da spricht man nicht drüber, darüber denkt man auch nicht nach. Ich glaube, wenn die Menschen älter werden, verschiebt sich der Schwerpunkt in Richtung Tod. Kinder sagen: Da ist jemand krank und mit einem gespendeten Organ kann er weiterleben!
„In den ersten Monaten nach der Transplantation entwickelte sich bei mir der Wunsch, anderen zu helfen und die Menschen aufzuklären.“
Lebensritter: Wie sieht denn Ihr Corona-Alltag aus? Ist es für Sie einfacher, weil Sie ja grundsätzlich vorsichtiger sein müssen?
Pia Stegt: Ich halte mich sehr streng an die Regeln. Dass ich eine Maske trage und mir die Hände desinfizieren muss, empfinde ich nicht als Einschränkung – ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es weitaus Schlimmeres gibt.
Lebensritter: Wird öffentlich zu wenig über das Thema Organspende diskutiert?
Pia Stegt: Durch den Gesetzesvorschlag zur Widerspruchslösung im letzten Jahr war das Thema wieder im Fokus. Es ist aber noch viel Luft nach oben! Da kann man gut Parallelen zu Impfgegnern und Corona-Leugnern ziehen: Es sind nur wenige Menschen, aber die sind sehr laut. Das bildet nicht den Querschnitt der Gesellschaft ab. Ich finde es schade, dass diese Stimmen, ähnlich wie bei der Organspende, ein so hohes Gewicht bekommen. Vielleicht hatten die Politiker Angst vor Gegenwind … Ich glaube nicht, dass die Entscheidung, also das Nein zur Widerspruchslösung, die gesellschaftliche Meinung widerspiegelt!