Die fünfjährige Mia liebt ihre Oma Martina über alles. Weil sie immer so lustig ist und so viel Quatsch macht – so typisch Oma eben. Dabei hat Mia ihre Oma eigentlich erst im letzten Jahr richtig erlebt. Richtig heißt: richtig energiegeladen. Denn Martina Wacker litt viele Jahre an der Lungenkrankheit COPD. 2016 hat sie eine neue Lunge und damit auch neue Lebensenergie erhalten.
Lebensritter: Frau Wacker, Sie sind viel mit Ihrer Enkelin unterwegs, das wäre ja vor ein paar Jahren noch gar nicht möglich gewesen, oder?
Martina Wacker: Ach was, da war überhaupt nicht dran zu denken. Ohne zusätzliche Sauerstoffzufuhr ging bei mir gar nichts mehr. Das, was für mich – und für jeden anderen – eigentlich selbstverständlich sein sollte, ging nicht mehr: Kartoffelschälen, Spülen, Kochen – das alles konnte ich nur noch im Sitzen; Stehen war viel zu anstrengend. Oder mit meiner Enkelin auf den Spielplatz, das ging auch nicht. Mein Lungenvolumen betrug nur noch 17 %. Das Schlimmste ist wirklich, wenn man keine Luft mehr bekommt. Das lässt sich schwer jemandem vermitteln, der nicht an COPD leidet. Aber versuchen Sie mal, mit einer Klammer auf der Nase nur durch einen Strohhalm zu atmen – dann weiß man ungefähr, wie sich das anfühlt.
„Aber versuchen Sie mal, mit einer Klammer auf der Nase nur durch einen Strohhalm zu atmen – dann weiß man ungefähr, wie sich das anfühlt.“
Lebensritter: Wie ist es dazu gekommen?
Martina Wacker: Im Jahr 2000 haben die Beschwerden angefangen, aber nur peu à peu, also ganz langsam. Erst war da ein leichter Husten, aber den habe ich dann aufs Wetter geschoben und dachte, das wäre eine Erkältung. Ich war immer schnell außer Atem, Treppensteigen ist mir nicht mehr leicht gefallen. Ich wurde immer träger, hatte auch keine Lust mehr zum Spazierengehen. Aber man schiebt das dann ja so vor sich hin, denkt, das geht wieder weg. Aber 2004 bin ich dann doch zum Arzt und habe die Diagnose COPD erhalten. Das war ein schwerer Schock für mich, denn diese Lungenkrankheit ist ja nicht heilbar! (Lebensritter: Der internationale Fachausdruck „COPD“ ist eine aus dem Englischen übernommene Abkürzung für Chronic Obstructive Pulmonary Disease und bezeichnet eine chronisch obstruktive Bronchitis. Obstruktiv steht dabei für eine Verengung der Atemwege, was bei den Patienten zu Atemnot führt.)
Lebensritter: Wie ging es dann weiter?
Martina Wacker: Irgendwann musste ich ständig Sauerstoff zu mir nehmen. Das heißt: Sauerstoffschlauch in der Nase und immer einen Sauerstofftank dabei. Ein Tank reicht für zwei bis drei Stunden. Das Sauerstoffgerät wiegt 2,5 Kilogramm. Ich habe mich so geschämt, wenn ich mit diesem Ding draußen war – die Leute gucken einen an … ich wollte gar nicht mehr raus, bin fast nur noch zuhause geblieben. Aber wenn man sich nicht bewegt, verschlimmert sich die Krankheit. Ein Teufelskreis. Zwischendurch wollte ich immer wieder aufgeben. Gerettet haben mich meine Tochter Angelina und meine Enkelin Mia – ich wollte für sie da sein, wollte sehen, wie sie groß wird. Wir haben immer viel Unsinn gemacht und hatten jede Menge Spaß – trotz oder gerade wegen meiner Sauerstoffgerätschaften. Mia hat mal gesagt, sie hat mich so lieb, weil ich immer so verrückten Quatsch mache. 2011 bin ich auf die Liste gekommen.
„Zwischendurch wollte ich immer wieder aufgeben. Gerettet haben mich meine Tochter Angelina und meine Enkelin Mia …“
Lebensritter: Wie sah Ihr Alltag aus?
Martina Wacker: Ich habe gearbeitet – soweit es ging. Die ganze Firma hat hinter mir gestanden, hat immer gesagt, wir schaffen das zusammen. Aber irgendwann konnte ich nicht mehr, bin dann 2013 runter mit den Stunden und habe auf 450-Euro-Basis gearbeitet. Die Arbeit hat mich von meiner Situation abgelenkt, aber es war auch nicht einfach: Ich habe den ganzen Vormittag gebraucht, um mich für ein paar Stunden Arbeit am Nachmittag fertig zu machen. Tja, und eines Tages klingelte mein Telefon. Normalerweise bin ich während der Arbeit nie ans Telefon gegangen, aber da war irgendeine Ahnung, irgendein Gefühl, und ich bin rangegangen. Und der Mann am Telefon fragte: „Sind Sie gesund? Wir holen Sie sofort ab!“ Da war alles klar – ich bekomme eine neue Lunge! Das war am 21.04.2016.
„„Sind Sie gesund? Wir holen Sie sofort ab!“ Da war alles klar – ich bekomme eine neue Lunge! Das war am 21.04.2016.“
Lebensritter: Wie ist die Operation verlaufen?
Martina Wacker: Meine Lunge war total zerfetzt und es hat ewig gedauert, sie zu entfernen. Acht Stunden lag ich im OP, die Ärzte sagten hinterher, dass das nicht fünf vor zwölf, sondern schon zehn nach zwölf war. Während der Operation erlitt ich einen Hirnschlag. Erst nach fünf Tagen bin ich aufgewacht. Die Transplantation hat perfekt geklappt, aber durch den Hirnschlag war ich linksseitig komplett gelähmt. Die Ärzte sagten mir, dass es bis zu zwei Jahre dauern kann, bis die Lähmung wieder verschwindet. Na toll, hab ich gedacht, jetzt kriege ich wieder Luft, kann aber nicht mehr laufen? Das konnte ich nicht akzeptieren. Ich wollte doch meiner Enkelin Mia entgegengehen! Also habe ich gekämpft und wie wild trainiert. Und nach drei Monaten konnte ich das Krankenhaus ohne Lähmungen wieder verlassen. Auf meinen eigenen Beinen.
Und das war so lustig, denn Mia ist an mir vorbeigelaufen, sie hat ja gedacht, ich liege noch im Bett, und mich gar nicht erkannt, so mit Mundschutz und allem …
Lebensritter: Wie geht es Ihnen mit der neuen Lunge?
Martina Wacker: Wunderbar. Seit September 2017 war ich nicht mehr im Krankenhaus. Die Ruhrlandklinik ist wirklich großartig, besonders natürlich die Station 4, wo ich lag – tolle Ärzte, tolle Pfleger, man kann immer anrufen, wenn was ist. Das scheint nicht immer so zu sein, was man so hört. Ich muss vierteljährlich zum Check-up, trage im Winter in der Erkältungszeit einen Mundschutz und Handschuhe, achte auf meine Ernährung, nehme meine Tabletten. Ich lebe bewusster. Und wenn andere Leute meckern, zum Beispiel übers Wetter – mal ist es zu heiß oder zu kalt oder es regnet –, dann denke ich immer: Mensch, ist doch völlig egal, wie das Wetter ist, man kann doch froh sein, dass man Wetter erleben darf! Ich liebe mein Leben. Und nach allem, was ich erlebt habe, kann mich auch nichts mehr erschüttern.
Lebensritter: Wie denken Sie über Ihren Spender?
Martina Wacker: Wer Organspender ist, muss einen tollen Charakter haben. Also ist mein Spender auf jeden Fall ein fabelhafter Mensch gewesen. Mehr weiß ich nicht über ihn. Ich träume aber fast jede Nacht von ihm. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, die Familie meines Spenders kennen lernen zu dürfen. Dass bei uns in Deutschland die Transplantation so anonym geregelt ist, ist ja in Ordnung – aber ich finde, das sollte jeder selbst entscheiden können. Ich zum Beispiel würde einfach gerne mal das Grab meines Spenders besuchen.
Lebensritter: Haben Sie sich vor Ihrer Krankheit eigentlich schon mit dem Thema Organspende befasst?
Martina Wacker: Einen Organspendeausweis trage ich, schon seit ich denken kann, bei mir. Ich hatte schon immer Angst vorm Scheintod, davor, lebendig begraben zu werden – und als Organspender bin ich hundertprozentig sicher, tatsächlich tot zu sein, immerhin wird man ja von drei Ärzten untersucht, die den Tod bescheinigen [Anm. Lebensritter: mindestens zwei unabhängige und dafür qualifizierte Ärzte müssen den Hirntod feststellen].
Lebensritter: Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
Martina Wacker: Ich gehe jetzt raus, um meine Geschichte zu erzählen. Zuerst gibt es noch ein paar Schulungen, wo ich lerne, wie man richtig präsentiert. Dann gehe ich in Schulen, mache bei Veranstaltungen wie „Kick fürs Leben“ mit und spreche über Organspende. Im September letzten Jahres wollte ich beim Firmenlauf hier in Mönchengladbach teilnehmen, dem „Run & Fun“. Ich hatte sogar schon einen Sponsor, weil ich ja keine Firma im eigentlichen Sinne bin. Leider hat mich eine Gürtelrose außer Gefecht gesetzt, aber dieses Jahr bin ich auf jeden Fall dabei und werde auf das Thema Organspende aufmerksam machen.
Lebensritter: Denken Sie eigentlich noch an Ihre Transplantation?
Martina Wacker: Ja, wenn ich zum Beispiel meine Tabletten nehme. Aber sie beherrscht nicht mein Leben. Eine Bekannte von mir, die auch eine neue Lunge hat, macht sich meiner Meinung nach selbst verrückt. Sie ist nur noch mit ihrem neuen Organ beschäftigt, kümmert sich nur noch darum, was sie darf und was sie nicht darf. Da nehme ich viel lieber mein Enkelkind an die Hand und gehe mit ihr spazieren oder Schuhe shoppen oder Hamburger essen – was man als verrückte Oma halt so macht …
„Ich gehe jetzt raus, um meine Geschichte zu erzählen.“